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Interview zum Krieg im Nahen Osten

Elham Manea: «Man kann für beide Seiten sein!»

Es knallt im Nahen Osten. Wer hat dabei noch den Durchblick? Die Politexpertin Elham Manea erforscht die Region seit Jahrzehnten. Die Schweiz-Jemenitin erklärt die Strategien der Länder – und wie sie sich eine Lösung für Israeli und Palästinenser vorstellt.

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Elham Manea, Politikwissenschaftlerin

Elham Manea auf dem Balkon ihrer Wohnung in Bern: Von der Schweiz aus reist sie nach Ägypten, Jordanien oder an die Grenze des Jemen: «Es gibt auch viel Schönes im Nahen Osten.»

Kurt Reichenbach

D as Thema ist ernst, doch Elham Maneas (58) herzhaftes Lachen durchbricht das Gespräch immer wieder. Obwohl die Professorin sich seit Jahrzehnten mit Konfliktregionen beschäftigt, sind ihr die Freude – und die Hoffnung – noch nicht abhandengekommen. Bei einer Tasse Tee mit Blick auf die Aare entwirrt sie die komplizierten Beziehungen im Nahen Osten.

Frau Manea, kürzlich erhielt Israel unerwartete Unterstützung: Warum halfen gerade Saudi-Arabien und Jordanien dabei, die Raketen aus dem Iran abzufangen?
Weil es in ihrem eigenen Interesse ist. Der Iran bringt Unruhe in die ganze Region. Dass Saudi-Arabien und Jordanien Israel zur Seite eilten, ist ein Signal an den Iran. Es geht diesen Ländern um ihre eigene Sicherheit. Das ist kein Spiel.

Jordanien unterstützte Israel, obwohl ein beträchtlicher Teil seiner Bevölkerung palästinensischen Ursprungs sind.
Ja, das Land ist hin- und hergerissen. Die Bevölkerung ist verständlicherweise wütend, weil sie sieht, wie die Menschen in Gaza leiden.

Gibt es andere arabische Länder, welche sich Israel derzeit annähern?
Ja. Zum Beispiel Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain.

Erstaunlich, oder?
Nein – realistisch. Für diese Länder ist Israel kein Sicherheitsrisiko und im Vergleich zum Iran das kleinere Übel. Aber der Konflikt zwischen Palästinensern und Israeli verursacht natürlich Loyalitätsprobleme.

Wie gehen diese Länder mit dem Widerspruch um?
Sie wollen unbedingt eine Lösung für das Problem, denn sie denken bereits an eine Zeit nach dem Nahostkonflikt, vor allem Saudi-Arabien.

Was bedeuten diese Beziehungen für die Palästinenserinnen und Palästinenser? Aus deren Sicht stellen sich doch nun immer mehr arabische Länder auf die Seite ihrer Unterdrücker.
Ja. Aber man darf auch nicht vergessen, dass die Kritik an der Hamas auch von der palästinensischen Bevölkerung selbst kommt. Die stellt mehr und mehr die Frage: Warum macht ihr das?

Haben Sie sich die Videos des Hamas- Angriffs vom 7. Oktober angesehen?
Ja, ich habe sie mir angeschaut.

Warum?
Damit ich sehe, was geschehen ist. Damit ich nie an einen Punkt komme, an dem ich so etwas verteidigen könnte.

Schadet die Hamas den Palästinenserinnen und Palästinensern?
Ja, denn sie sind ihr zu einem gewissen Grad ausgeliefert. Wobei die israelische Reaktion auf den Angriff die Infrastruktur der Hamas geschwächt hat.

Fördert Israel durch Bombardierung, Vertreibung und Aushungerung der Bevölkerung Gazas nicht neue Terroristen? Welche Wahl bleibt den Menschen dort sonst?
Gewalt führt zu Gewalt, das ist die Tragödie dieses Konflikts. Es gibt nur einen Ausweg: Frieden und Koexistenz. Man muss in die Menschen investieren, statt sie zu töten. Das mag naiv klingen, aber es ist der einzige Weg.

Der Nachwuchs an Terroristen scheint gesichert.
Sobald es irgendwo ein Machtvakuum gibt, kommt jemand, um es zu füllen. Das könnte auch der Islamische Staat oder der Jihad al-Islami sein. Die Hamas ist gefährlich, aber andere sind noch gefährlicher. Spaltet sich eine radikale Organisation, dann werden die neuen Machthaber immer noch extremer – bis sie komplett nihilistisch sind.

Wie meinen Sie das?
Ging es der Hamas bei diesem Massaker darum, Freiheit für die Palästinenser zu erlangen? Nein. Ich respektiere das Recht der Palästinenser auf friedlichen Widerstand. Aber das war nicht Widerstand, sondern einfach nur Vernichtung.

Elham Manea, Politikwissenschaftlerin

«Manche arabische Intellektuelle haben nach dem Massaker der Hamas gejubelt. Das enttäuscht mich», sagt Elham Manea.

Kurt Reichenbach

Der türkische Präsident Erdogan empfing diese Woche Hamas-Führer bei sich. Mit Umarmung und Wangenküssen. Warum?
Die Hamas sucht einen neuen Ort, von dem aus sie operieren kann. Bisher war dieser Ort Katar, doch nun ist die Hamas für Katar eine heisse Kartoffel geworden. Die Türkei wiederum sucht eine Rolle in der Region. Doch um Vermittlung geht es Erdogan nicht.

Sondern?
Er ist ein Rhetoriker. Er redet viel. Gleichzeitig ist aber hintenrum die Handelsbeziehung zwischen Israel und der Türkei immer intensiver geworden. Das Geld darf fliessen.

Wie haben Ihre Freunde aus dem arabischen Raum auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober reagiert?
Für meine Freundinnen hier in der Schweiz war klar, dass man das verurteilen muss. In den arabischen Ländern war es anders – gerade auch bei Intellektuellen. Die haben teilweise gejubelt. Ich hoffe, dass sie das gemacht haben, bevor sie gemerkt haben, was da wirklich passiert ist. Einige von ihnen haben mich sehr enttäuscht.

Nach der Bombardierung Gazas mehren sich im Westen israelkritische Stimmen.
Wissen Sie, sich mit den Palästinensern zu solidarisieren, heisst nicht, dass man Israel automatisch verteufeln muss oder dass Antisemitismus plötzlich okay ist. Man kann für beide Seiten sein! Um vorwärtszugehen, müssen wir die Menschen auf beiden Seiten berücksichtigen.

Worum geht es den Israeli und den Palästinensern nach all diesen Jahren?
Sie haben Angst. Und das zu Recht. Die Hamas-Aktion hat den Israeli gezeigt, dass sie der anderen Seite nicht vertrauen können. Die Reaktion Israels hat den Palästinensern gezeigt, dass sie getötet werden, auch wenn sie keine Schuld trifft. Kommt hinzu, dass sich Israeli und Palästinenser sehr ähnlich sind.

Wie bitte?
Ja, in ihrer Art und Weise. Beide reagieren sofort auf Demütigungen durch den anderen, deshalb dreht sich die Gewaltspirale immer weiter. Beide beanspruchen das Land, und beide gehören zu diesem Land. Sie müssen es teilen. Ich weiss, es klingt simpel, aber so ist es.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine Lösung?
An die Zwei-Staaten-Lösung glaube ich nicht mehr. Meiner Meinung nach braucht es einen einzigen Staat, eine vielfältige Konföderation, in der Palästinenser und Israeli, Moslems, Juden, Christen, Drusen und Bahai mitbestimmen. Eine gerechte Regierung, welche die ganze Bevölkerung schützt. Ohne eine Lösung für diesen Konflikt bleibt die ganze Region verflucht.

Das Palästinenser-Hilfswerk der Uno UNRWA ist gerade in der Kritik, weil es angeblich nicht neutral agiert.
Man weiss schon lange, dass es da eine problematische Vermischung gibt. Gewisse Texte in den von der UNRWA geförderten Schulbüchern sind ideologisch aufgeladen, das ist nicht okay. Doch nur die UNRWA hat Infrastruktur und Beziehungen vor Ort, um den Menschen zu helfen.

Wie soll man mit diesem Interessenkonflikt umgehen?
Im Moment ist es das Wichtigste, den Menschen in Gaza zu helfen, auch mit der UNRWA. Nach diesem Krieg muss man die Rolle des Hilfswerks untersuchen und Konsequenzen ziehen.

Also soll die Schweiz die 20 eingefrorenen Millionen für die UNRWA freigeben? Bürgerliche Politiker und Bundesrat Cassis sind dagegen.
Ja, das Geld muss freigegeben werden. Die Lage in Gaza ist ernst, deshalb darf es da jetzt keine Zurückhaltung geben.

Wie gross ist im Moment die Gefahr eines Kriegs zwischen Israel und dem Iran?
In einem indirekten Krieg sind wir schon. An einem direkten Krieg hat niemand Interesse. Das sieht man an der kalibrierten Art, wie Iran und Israel reagiert haben. Andererseits haben auch grosse Brände durch kleine Funken angefangen.

Was meinen Sie damit?
Kriege beginnen nicht, weil die Akteure das wirklich wollen, sondern weil irgendwann einer von beiden sagt: «Okay, jetzt müssen wir – die anderen haben uns ja dazu gezwungen.» Erschwerend kommt hinzu, dass es in beiden Ländern derzeit einen internen Machtkampf gibt. Manche Akteure interessieren sich mehr für das eigene politische Überleben als für das Wohl ihres Landes.

Welches ist aus Ihrer Sicht das gefährlichste Land der Region?
Ich versuche, nicht in solchen Kategorien zu denken. Jedes Verhalten hat eine Ursache, und jede Aktion steht in einem bestimmten Kontext. Nur so kann man sich ein Bild machen und versuchen, Muster zu ändern. Aber man kann nicht ausblenden, dass die iranische Regierung mit ihren Verbündeten derzeit die Region destabilisiert.

Welche Länder gehen derzeit vergessen?
Der Sudan und Afghanistan.

Sie stammen aus dem Jemen, einem Land, das ebenfalls oft vergessen wird. Haben Sie Familie dort? Besuchen Sie das Land?
Ich habe dort Verwandte, kann aber aus Sicherheitsgründen derzeit nicht in die Hauptstadt Sanaa reisen.

Wo sind wir im Moment: Bei «Auge um Auge, Zahn um Zahn» oder bei «Halte die andere Wange hin, wenn du auf die eine geschlagen wirst»?
Definitiv bei «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Aber wie Gandhi sagte: Mit dieser Methode wird irgendwann die ganze Welt blind sein.

LS
Lynn ScheurerMehr erfahren
Von Lynn Scheurer am 28. April 2024 - 10:00 Uhr